Deutsche Höfe

Südfriedhof ÷ Betriebshof West ÷ Hinterhof / Ost ÷ Nordbahnhof

mit Prequel Der Schulhof und Supplement Zum Deutschen Hof

 

Der Schulhof

Gedrückt in den Hauseingang, in der Ecke zwischen Türscharnier und Laibung, grauer Körper vor grauem Grund, abgestellt, in gewünschter Selbstauflösung und Unsichtbarkeit, gerade so groß wie ein Zwölfjähriger, steht der Geldautomat. 

EURONET behauptet er, Verirrt-Sein steht ihm jedoch ins Gesicht geschrieben. 

So, wie das Haus und sein Eingang den letzten vierzig Jahren getrotzt haben und – anders als aller Platz ringsum – keinen Deut vom Gewesen-Sein abgerückt sind, so sollte eigentlich in der Ecke ein Junge stehen, im Hausmeisterseingang, bangen Blicks ob etwaiger Lehrer; denn Rauchen auf dem Schulhof war verboten –  und die Hausmeisterswohnung ging nun einmal direkt auf den Schulhof hinaus.

Die nächste Tür war die Milchschleuse, hier drückte sich nie jemand herum, zu sehr hing der Geruch verwelkter Schulmilchkartons an den Stufen. Erst wieder an den Fahrradständern, die mit einem Dach versehen waren und meist über einen kleinen Berg restlichen Streusands an-gesteuert werden mussten, war Raum, dem Leben seine Geheimnisse abzulauschen. 

Die Topographie des Schulhofs bestimmt nicht unwesentlich das Wissensniveau der Eleven.

Eine Stinkbombe ließ sich nun einmal am besten an den Radständern basteln und zünden. Ein Heftumschlag aus weichem Plaste, darin eingewickelt Papier, Kohlereste oder Laub genügten, um dem Chemieunterricht voraus zu sein. Physikalischer Kenntnisse – oder zumindest körperertüchtigter Zehntklässlerleiber – bedurfte es, um das Fahrrad des strengsten Lehrers auf das Dach des Flachbaus zu bekommen, schön umhüllt mit Klopapier. Christos Reichstag sollte erst zwanzig Jahre später verpackt werden, und keiner der Schüler hätte das Spektakel als Fluxus oder Happening bezeichnet, doch scheinen große Ideen auch auf kleinen Höfen vorzeitig Gestalt annehmen zu können.

Der Schulhof ist noch immer derjenige deutsche Hof, der die meisten Tritte kassiert: leichte in Größe 29 der Schulanfänger, gehetzte der Zuspätkommer, auf der Stelle tretende der Warten-den, wütende, gelangweilte, hüpfende.

Zweittausendeinhundert Stunden jedes Lebens vollendeten sich auf diesem Hof. Neunzig Non-Stop-Tage, verteilt auf alle Jahreszeiten, Jahrgangsstufen. 

Täglich wogte die Welt herein, befördert durch den vortäglichen Fernsehkonsum, Serienstoff wurde weitergewebt zu Phantasiewelten, Distinktionen ausgespielt durch Mitredenkönnen oder Schweigenmüssen. Medienwissen ist nicht erst seit der tempora digitaliensis eine Königsdisziplin.

Ränke schmieden wäre eine andere dieser Disziplinen, deren Mechanismen zu erlernen ein Schulhof garantiert. 

Mit Erwerb von Kompetenzen hinsichtlich der Reflexion des eigenen Lernprozesses könnte man neudeutsch verbrämen, was seit alters her einen Schulhof ausmacht - das Stöhnen über Lehrer und ihre Methoden.

Siehst du den Zweitklässler, wie er hastig von der Klassen-lehrerin über den Hof geführt wird? Eile ist geboten, die Klasse soll alsbald aufbrechen, um Spalier zu stehen für einen Staatsgast und gerade jetzt setzen die Ohrenschmerzen ein, wie gerufen; er hätte nicht mitgedurft: dann doch lieber nach Hause geschickt als in einer Fremdklasse angestarrt zu werden. Ehrlichkeit oder Schlauheit, sind das Gegensätze oder doch eher ein dialektisches Paar, zumindest in einem solchen Augenblick? 

Hand aufs Herz: wieviel hast du gelernt in der Schule – auf dem Hof?

 

Der freie Himmel ist der Deckel des Schulhofes, 
das „Wofür brauchen wir das?“ 
treibt fort mit den Wolken.
Ungenutzte Vokabeln 
versickern im Gully. 
Wissen setzt sich ab. 
Hinterlässt 
Ränder 
im 
Gehirn. 

Der Hof erwacht immer wieder neu.

                                                                          
 

Südfriedhof

 

Der Kurznachrichtendienst der Jahrhunderte – Äonen vor Twitter – bedient sich eines ewigen Materials: Stein. 

Er sendet seine Nachrichten nonstop. #RIP.

Unvergessen. Ruhe in Frieden. Die wir verloren glauben, sind uns vorangegangen. Abrufbar nur im Netz vor Ort, kein VPN-Zugriff, doch fußläufig zu erreichen. Nur fußläufig. Hingehen, zurückgehen. Bis man getragen wird. Und bleibt.

¸

Feuerkäfer kriechen durchs Laub. Ewiges Blattwerk welkt nicht. Weiter hinten leuchten Blumen, die gestraußt an Stämmen hochzuranken scheinen. Umzieren Sammelgräber und vermögen so, einer Sammelklage nicht stattgeben zu müssen.

Dann taucht auch schon die Feierhalle auf. „Feierhalle“. Wenn Ü-70 feiern geht. Verwechslung mit Party eher selten. Feiern wir das Leben, den Tod?

Trauerfeier – Trauer tragen – Trau ertragen – Trauung – Traute – Trau keinem über vierzig (er könnte hierhergehören).

Damit sich solcherhand Assoziieren nicht in die Straßen der Stadt ergießt, folgt nun die Friedhofsmauer, den Lebenden zur Begrenzung. Um den Tod zurücklassen zu können. Doch die Mauer als Lebensscheide taugt nur bedingt.

Schon mit den ersten Schritten hinaus wird klar: so fest gegründet wie ein Grabstein ist man selten nur im Leben. Obwohl – auch Grabsteine können der Erde wie lose Zähne ausfallen. Oder wahlweise gezogen werden. Nutzungsrecht abgelaufen. Bitte in der Friedhofsverwaltung vorsprechen! Gern auch auf Rot gedruckt, dem Stein voll ins Gesicht gespuckt.

Eine Joggerin läuft vorbei und stört die Totenruhe; nicht, daß die Toten deshalb klagten, nein, es ist die Hast, das Zu-Schnell-Sein, das den Gehenden das Leben an die Kehle setzt. 

Ruhe in Frieden, doch der Frieden der Welt liegt in der Bewegung, noch einmal Tag, noch einmal Nacht und noch ein Morgen. Geht es den Toten anders? Ein Innehalten für Ewigkeiten? Verharren im Moment, bis man aus der Zeit gefallen ist? Auch eine Lebensstrategie.

Zum Friedhof gehört die Bank. Verweile doch, du bist so schön. Gesell dich zu uns. Bleib. Nimm mit. Bring – nicht nur Blumen. Bring dein Heute mit her. 

Noch sind sie da, die Toten. Oder da. Noch sind es deine Toten, du kannst teilen. Oder unsere, die, die da vor uns waren. Deren Platz wir eingenommen, auf deren Pflaster unsere Füße Halt suchen. Deren Rucksack unseren Rücken sucht. Deren Hoffnung nach unserer fragt. In Kurzform Dank Christi Auferstehen – auf Wiedersehen. Manches Mal erscheint die Hoffnung der Hiesigen schon auf dem Stein: Aber du stehst am Tor und wartest auf mich. Abschied und Wiedersehen. Wie am Nordbahnhof. Doch das ist eine andere Geschichte.

Es sind die Frauen, und unter ihnen eher die jungen, wie schon unterm Kreuz ehedem auf Golgatha, die ihr Antlitz den Stelen leihen; den Kopf in Trauer leicht geneigt, die Haare verhüllt, das Gewand eng umschlungen, doch so, daß noch genug Falten fallen. Schönheit und Anmut als Tröstung. Werbeplakate könnten das nicht besser – Schönheit und Makellosigkeit als Versprechen. So trifft sich Leben und Tod im Auge des (männlichen) Betrachters.

Gelogen wird auch auf Friedhöfen, vielleicht gerade dort: *2. Janr. 1882, er starb für sein Vaterland am 2. Oktbr. 1914 vor Antwerpen

Er starb für sein Vaterland in Maryniow in Russland – wie groß so ein Vaterland doch sein kann!

Und wieviel Wahrheit selbst ein Grab noch verkünden kann: der Abiturient, Kriegsfreiw., Gefr., Offiz=Aspr. i. Inf=Rgt.N=21. 

Ein Leben, abgebildet in 58 Zeichen (plus sechs Leerzeichen). Streichen wir die 58. Verbleiben? Die Leerzeichen. In der Seele. Gefüllt mit Begeisterung zum Kampf. Der zum Kämpfen wurde, Unterabteilung Sterben.

Ein Jeder gibt den Wert sich selbst. Was nach irdischem Streben, nach transzendenz-losem Suchen ob einer Begründung für das Erdensein klingt, erweist sich als Zitat, diesmal jedoch nicht dem Buch der Bücher entnommen.

Was liegt der Welt dran, meint Ihr, ob der niedrig/Geborene sich ehret oder schändet,/ Wenn nur der Fürstliche gerettet wird./– Ein jeder gibt den Wert sich selbst. Wie hoch ich/ Mich selbst anschlagen will, das steht bei mir./ So hochgestellt ist keiner auf der Erde,/ Daß ich mich selber neben ihm verachte. [Schiller „Wallensteins Tod“ 4. Akt 8. Auftritt]

So steht dort also eine trotzig Selbstbehauptung, als Lebensmotto und Vermächtnis den Vorüberkommenden zur Mitgabe empfohlen. Der Grabstein bleibt ganz dies-seitig, wird nicht zum Steg über den Jordan. Denn am anderen Ufer steht der Wert des den Strom Übersetzenden schon längst fest; stand schon fest, bevor der erste Schritt ins Leben getan wurde. Davon Zeugnis zu geben und Wärme zu spenden, vermag jener Stein jedoch nicht.

Menschen die gehen, fühlen nicht den Schmerz des Abschieds. Tage des Zorns, dies irae. Unversöhnt, wenn einer geht mit 28. Der Grabstein wird zum Spiegel des Selbst, nicht Pforte in ein Anderes. Die „Hinterbliebenen“: was für ein Beziehungs-Status! Zurückgelassen, im Passiv, „Zurückbleiben, bitte!“.

Familie Noack, Prenzlow, Fritsch. Ein Stein, drei Familien. Geteilter Ort, kein Anspruch auf mehr Raum als den Standplatz dieses Steins. Die Erde den Lebenden. Erinnerung verbraucht keine Ressourcen. Ist nur Zutat zur Veredelung des Seins. Erinnerung ist, wenn ein Stern durch deine Seele zieht.

Ruhestatt. Sein dürfen. Kein Streitig-Machen des eigenen Platzes durch andere. Wer mag da schon hin – auf den Friedhof, auf ewig? Dies ist der wahre Unterschied zum Leben, im Tod hat jeder seinen Platz. Daß dies im Leben anders scheint, anders ist, wirft kein schönes Licht auf unsere Spezies. Nicht einer Humanisierung des Sterbens bedarf es; eine Mortalisierung des Lebens wäre wohl nötiger.

Doch noch stehen da einige Steine auf dem Weg: Aussagesteine [Der Himmel hat zwei Engel mehr], Wunschsteine [Es gehe dir gut, wo immer du jetzt bist], Klagesteine [Du fehlst!] – ein ganzer Psalter in Marmor und Granit. 

Auch zukünftigen Genealogen und Soziologen bietet das Steinreservoir Forschungs-fragen [R.I.P Basef / Paco / Dario / Josi / muzik juncki Sommerjunior Dreamgirl 2000 / KishA 91 / 3NGELC4EN / sweety 1987 / Mir doch egal / BadGirlOne / Aize Burns / iihrSchaatz / Alphagene / R1Xx3n / und deine ganze PHR crew.].

¸

Feuerkäfer kriechen über Steine. Ewiges Nadelwerk welkt nicht. Weiter hinten leuchtet ein Stein, auf den ein in Böen sich neigender Baum geritzt ist. Am Fuße des Baumes steht eine Bank, umtanzt von letzten Blättern. Auf der Bank wäre noch ein Platz frei.


 

Betriebshof West

 

Das Geviert der Straßen heißt nun offiziell Kunst-Karree und bietet als Entrée den Cocktail-Circus, der Barevents und Cocktailcatering offeriert, doch schneiden sich noch immer die Gleise der Eins ins Pflaster des Viertels. 

Einst weit draußen, Stadtrand, Endstation, hat sich die Stadt längst darüber hinaus-geschoben. Die Eins setzt nicht aus, sondern ihre Fahrt fort: Endhaltestelle Ikea. 

Geblieben ist der Betriebshof.

Die Tore schließen seit Jahren nicht mehr, die Hallen wie eh und je mit Generationen von Fahrzeugen belegt; nur dem roten Backstein wurde erst unlängst die weiße Putzweste ausgebürstet.

Vor den Fahrradständern campiert ein Container.

Die Tür ist nur angelehnt, ein Lichtschein fällt auf den ausgewaschenen Asphalt, die Wärme des Sommers hängt noch zwischen allen Oberleitungen beim ersten Besuch.

Das Graffito auf dem Container zeigt eine fliegende Straßenbahn, die in einem Buch versinkt, mit einiger Mühe läßt sich die Buchstabenkombination Trambib entziffern. Scherzbolde haben dem M einen Haken entwendet und das B zum Doppel-S transkribiert.

Das Innere der Straßenbahn-Buch-Leihstelle überrascht durch seine Gemütlichkeit: Sofa und Sessel vom nahegelegenen Recycling-Hof, eine Wand mit Kinder-zeichnungen, mehrere Leselampen mit Schirmen, auch vom Wertstoffhof, die jeden Vintage-Wettbewerb gewinnen würden, kleine Tische. 

Und natürlich Regale mit Büchern.

Alles begann damit, daß bei der abendlichen Reinigung eines Wagens im Frühjahr 2018 ein Rucksack mit acht nagelneuen Büchern gefunden wurde. Die übliche Meldung an das Fundbüro ging heraus, eine Rückfrage kam nie. 

Acht Bücher, ein Straßenbahnfahrer – dies war der Beginn.

Die Bücher wurden auf dem Fensterbrett der Kantine platziert, als rückgebbares Pausenbrot.

Es kam der Sommer. Der eine oder andere wurde gesehen, wie er am offenen Fenster in dem ein oder anderen Werk blätterte, mitunter sogar las.

Mit der Zeit gesellten sich weitere Bücher zu den OAs, den Original Eight, Einzelfunde von Haltestellen und Ausrangiertes aus den Haushalten der Straßenbahner.

Nicht nur wurde das Fensterbrett zu klein, auch die Kantine schloß endgültig, als die Förderung der Betreiberin durch das Arbeitsamt auslief. Doch waren da noch die Bücher – und der Bedarf eines Pausenraumes.

Hier nun kommt C. ins Spiel; einer, der zur rechten Zeit am rechten Fleck war. 

Ein Container. 
Und C. 
Der Fahrzeugtechniker. 
Dieser zog eine Stromleitung zu C. (dem Container). 

Wasser gab es schon – direkt an der Eingangstür. 

Die Kollegen zeigten Interesse.

Ein langer Sommer und ein sommerlicher Herbst ließen die Türen immer offenstehen, 
sehen und gesehen werden, 
das Abendblatt berichtete. 

Nachbarn spendeten Bücher, rasch wuchsen die Stapel. 
Regale fehlten, konnten aber durch Azubis einer betreuten Werkstatt aus Altholz gezimmert werden. 
Die Verkehrsbetriebe versuchten einen BuFDi als Betreuer einzustellen, doch die Bürokratie hatte den längeren Löffel. 
Bedarf an Freiwilligen besteht weiterhin.

Möglich, daß die Graffiti-Verbesserer gar nicht so Unrecht haben: die TRANSSIB erschien zu Beginn vielen sicher auch als unmögliches Projekt.

Als die Tage kürzer wurden, schauten die ersten Grundschulklassen herein. Da der Stadtteil keine eigene Feuerwehr hat, war es schon länger üblich, mit den Schülern statt der Feuerwache den Betriebshof zu besuchen. 

Kekse im „Lesezimmer-Container“, in dem sich natürlich keine Kinderbücher fanden, dafür dieser etwas staubige Geruch und die gemütlichen Polster, ließen viele Kinder später genau jenen Container malen, wenn sie ihre Eindrücke des Wandertages aufs Papier bringen sollten.

Die Weihnachtsfeier soll großartig gewesen sein; Betriebsangehörige mit ihren Kindern, Buchspender und Regalbauer vereint, sogar an eine Kurzlesung eines Lesebühnenautors an der Feuerschale vor dem Container war gedacht worden: 

„Über Deutsche Höfe mit #Relotius“.

Er las von den Müllmännern in Ankara, die eine Bibliothek auf ihrem Recyclinghof betreiben.[1]

Gute Ideen machen eben nicht Halt vor deutschen Landesgrenzen.
Hoffentlich.
Bald.


 

Hinterhof / Ost

 

Er stand am Fenster.

Sein Blick irrte etwas durch die Weite, bevor er auf dem verwaschenen Beton des Hofes aufschlug. Die Brandmauer, an der sich seine Augen Backstein um Back-stein, Jahr um Jahr, hinuntergehangelt hatten, war verschwunden, die schmale Pappel auch. Der Hof war ausgeflockt. Vorderhaus und Seitenflügel standen wie ehedem, doch schloß sich nun ein Rasenstück an, auf dem ein verwirrter Kubus mit Fenstern Zeugnis architektonischen Willens gab. Andere Loft-Livings lagerten weiter hinten, manche in revitalisierten Fabrikgebäuden, andere in freier Form. Der Campus der Bohème – direkt vor meinem Fenster, hatte sein Vater das in den letzten Jahren genannt, wenn sie eines der seltenen Telefonate führten.

Er selbst war auch gewechselt auf den Campus der Bohème. In den Süden, ans Meer. Berliner Winter hatte er zutiefst gehaßt. Er war nur selten noch zu Besuch gekommen, hatte diesen Hinterhof nicht vermißt. 

So kam es ihm seltsam an, daß sein Blick das Gefangensein suchte, gebändigt durch vier Wände, unten der Beton und oben der Himmel.

Er hatte lange gegrübelt, ob er eine Überführung zu einem Friedhof in seiner Nähe veranlassen sollte, aber sich dann doch dagegen entschieden. Die Wohnung war gekündigt; Strom, Gas und Telefon abgemeldet, vielleicht würde er noch etwas aussuchen, das er zur Erinnerung mitnehmen würde, für den Rest war eine Firma bestellt. 

Langsam wandte er sich vom Fenster ab, zog die Tür ins Schloß und stieg die Treppen hinab.

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Sie hatte das Kissen aufgeschüttelt, das Kopfteil eine Stufe höher eingerastet und ihrer Mutter die Tagesdecke über die Füße gelegt. Dann hatte sie die Tür leise hinter sich geschlossen, war auf den Hof getreten und hatte sich eine Zigarette angezündet. Sie mochte den Blick, der zuerst an einem futuristischen Wohnhaus vorbei auf eine Japanische Kirsche fiel, hinter der die geputzten Gelbklinker des ehemaligen Werks einen schönen Kontrast zum blauen Himmel bildeten. Wenn denn der Himmel blau war. Heute gab es einen solchen, also war es ein guter Tag.

Sie hörte, wie jemand den letzten Treppenabsatz hinunterkam und auf den Hof hinaustrat. Sie kannte keinen mehr von oben, also drehte sie sich auch nicht um. Nachdem sie aufgeraucht hatte, nahm sie eine zweite Zigarette aus der Packung, fand ihr Feuerzeug nicht gleich und schaute suchend um sich.

Der Mann, der dort stand, kam ihr bekannt vor und es dauerte einen Moment, bis sie wußte, woher. „Mirko?“  Der Mann schrak etwas zusammen, wandte sich ihr zu und antwortete überrascht „Viola! -  Wohnst du ... - ... noch immer hier?“

„Nein, also, nur meine Mutter noch, sie ist runtergezogen, konnte nur noch schlecht gehen, naja, jetzt eigentlich gar nicht mehr, so schaue ich jeden Tag nach dem Rechten.“

Viola, das war lange her.

Er erinnerte sich, daß sie an einem 31. Mai eingezogen sein mußte, denn am nächsten Tag, dem Kindertag, hatten sie früher Schulschluß als üblich und es war das einzige Mal, daß sich alle in der Klasse einig gewesen waren: sie hätten gern darauf verzichtet. Er sieht noch seinen Biologielehrer an die Tür gelehnt stehen, in den Augen eine unendliche Weichheit, den Kindern nachsehend. Dessen Sohn war unter eine Straßenbahn geraten. Unter diesem Blick hatte Mirko zum ersten Mal begriffen, daß ein Lehrer seine Schüler auch mögen konnte.

Dann standen sie zum ersten Mal gemeinsam auf dem Hof, von noch keinem erwartet. Sie setzten sich auf den Rand des Betonkübels in der Mitte, in dem einige wilde Blumen sich anstellten zu wachsen. Viola hatte ihn gefragt, ob er auch in den Rissen des Bodens einen springenden Delphin erkennen könne, er hatte eher an den Umriß von Afrika gedacht, der Gully war der Tschad. 

So begann ihr gemeinsamer Sommer. Violas Mutter hatte nach der Scheidung und dem Umzug kein Geld für eine Reise, Mirkos Vater hatte sich im Juni den Fuß gebrochen, so daß auch er zum Hierbleiben gezwungen war.

Sie hatten die Kondensstreifen der Flugzeuge im Himmelsgeviert sehnsuchtsvoll betrachtet, hatten das Rascheln der Pappel als Beifall genommen beim Radschlagen und Federball spielen. Der Geruch von Bratkartoffeln hatte sie oft begleitet, so wie die Stimme von Kasuske, der jeden Freitagabend ins Schimpfen kam. Die Türen und Fenster hatten zumeist offen gestanden, so hatten sie auch zum ersten Mal dieses seltsame Stöhnen vernommen, von dem sie später – jeder für sich – lernen sollten, dass davon nichts Bedrohliches ausging.

Es war der Sommer des Gleichgewichts gewesen, in welchem ihm noch nicht peinlich gewesen war, mit einem Mädchen gesehen zu werden, des Gleichgewichts zwischen Hitze und Abkühlung, zwischen Langeweile und Aufregung, zwischen Pershing und SS 20.

„Weißt du noch, damals, als du hier eingezogen bist...“

„Du meinst, wie wir der Polizei geholfen haben, das vermißte Kind zu suchen?“

„Und bis zum Stadion liefen...“

„Und mörderisch Dresche kriegten, weil wir soweit gar nicht durften...“

Beide lächelten.

Würde man sie fragen, würden sie sagen, daß in diesem Sommer zum ersten Mal die ganze Welt wie durch einen Trichter in diesen Hof geraten war. Später waren sie der Welt hinterhergezogen.

In seinem Designer-Auge setzte Mirko ihre beiden Namen zusammen, ein Berufstick. Sein Name, von links nach rechts, ihrer von oben nach unten, das i bildete den Schnittpunkt. Darüber ihr V als Victory-Zeichen gesetzt, die restlichen Buchstaben als La-OLA Welle geformt.

 

„Wann genau eigentlich haben sie das Nachbarhaus abgerissen?“
„Da wohnte Mama noch oben, plötzlich war so ein weiter Ausblick, und es war immer hell.“
„Weißt Du, daß ich einmal versucht habe, alle Steine in der Mauer zu zählen?“
„Und hast du es geschafft?“
„Keine Ahnung.“

Sie hörten Violas Mutter durchs angelehnte Fenster husten. 

„Oh, ich muß,“ sagte Viola, „wenn du willst, gib mir deine Nummer und ich schicke dir ein Bild, dann kannst du noch mal zählen. Bevor ich auszog, habe ich den Hof fotografiert. Ich finde die Bilder bestimmt wieder.“

÷

Er ging die paar Schritte bis zur Ziegelstein-Bruchkante, auf der ein grüner Maschendrahtzaun den Hof vom beginnenden Rasen schied. Das gepflegte Grün lag etwas tiefer, das Gelände war abschüssig und das Fundament der Brand-mauer ragte wie eine Narbe daraus hervor. 

Der Hof war die Welt gewesen, jetzt war die Welt der Hof, dem eine Seite fehlte. Hinter der fehlenden Mauer ging es weiter, und dahinter ging es noch weiter. Und dahinter noch weiter. Man konnte davon müde werden. 

Er kehrte um, trat in den Hausflur, nahm sein Telefon zur Hand und stornierte das Hotelzimmer. Dann stieg er die Treppen nach oben. 

Die Firma zum Entrümpeln würde erst morgen kommen.

 

 

Zum Norddeutschen Hof

 

 Zum ersten Mal war er am Bahnhof über die Buchstabenkombination gestolpert; oberhalb des Hotelwegweisers, der auch den Norddeutschen Hof verzeichnete, zu welchem ihn seine Schritte lenken würden, prangten drei Konsonanten, ein schwarzer Dreiklang auf fleckiger Mauer: NRD.
Nord.
Er war angekommen.

*

35 Jahre her, dass er so weit nördlich gewesen war. 

Schulabschlußfahrt. Sie würden sich zerstreuen nach dem Sommer, doch zuvor war noch Juni, und der schon richtig heiß, die letzten Sommerferien danach noch ein großes Versprechen.

*

Sein Fenster ging zum Hof, er hörte alle Viertelstunde die Glockenschläge von St. Marien herüberwehen, der Wind krakeelte und Möwenschreie fielen aufs Pflaster.

Der Weg vom Bahnhof in die Stadt hatte ihn über einen Deich geführt, die Häuser – so kam es ihm vor – hatten sich herausgemacht, lindbunt, das Rot der Backsteine geputzt, die Gehsteige geschniegelt.

„Ich kenn´ dich noch
in schwarz und weiß,
dein Rouge die schönsten
Graus der Welt“,

summte er vor sich hin, während er zum Tresen lief, um auf ihr Eintreffen zu warten.

*

Sie hatte, wie versprochen, gesucht, das Bild wiedergefunden und ihm geschickt, er hatte die Steine gezählt und mit der Zahl geantwortet. Dabei war ihr noch ein Bild in die Hände gefallen, eines von ihrer letzten Klassenfahrt. Auf der Rückseite hatte sie damals „drei Freunde“ notiert. Das Bild – in vielerlei Grau – zeigte Mülltonnen, die runden noch; zwei neigen sich zueinander, die dritte steht diskret abgewandt, den Deckel leicht geöffnet. Sie fand das lustig und schickte auch dieses Bild. Vielleicht hatte er das falsch verstanden, vielleicht hatte sie es aber auch genauso gemeint, jedenfalls lief sie nun vom Parkplatz im Hof zum Eingang des Norddeutschen Hofs.

*

Sie waren sofort aufgebrochen, das Haus der Jugendherberge zu suchen, von dem sie wußten, daß es zur Stadtmauer gehört hatte. Am Petri-Platz zeigte Mirko überrascht auf die drei Buchstaben, die auf den Sockel des Lotsendenkmals gesprüht waren. Viola lachte laut auf: „So hintersinnig nostalgisch hätte ich die hier gar nicht vermutet, Niemiecka Republika Demokratyczna, die DDR auf Polnisch!“

„Du hattest ja auch noch keine Zeit, die Autogrammkarten an der Rezeption zu bewundern: Helga Hahnemann, der Gysi, Dieter Mann, IC Falkenberg, Lakomy, alle waren sie hier. Die Täfelung im Gastraum sieht aus, als fiele es ihr nicht schwer, sich dieser Zeiten zu erinnern...“

Sie fanden die Herberge nicht. Dort, wo sie hätte sein sollen, residierte eine Wellness-Oase.  Der Weg durchs Stadttor jedoch führte wie eh und je zur einen Seite zum Markt, zur anderen ins Leere, Weite, zu Himmel und Sund.

Jenen Weg nahmen sie, sich Namen zuwerfend, Begebenheiten, Bruchstücke der Erinnerung zusammenschiebend, plaudernd. An der Kaimauer schlug das Wasser an die Buhnen. Durch die Ohren zog die Zeit eine Schleife, auf der mühelos ins Vergangene balanciert werden konnte. 

Das erste Stehen am Rande des Meeres, diese Großartigkeit. Das Erreichen einer Grenze, das Ende der Begehbarkeit der Welt. Das Auslaufen des Landes. In die Unüberwindbarkeit des Wassers. Natürlich hatten sie nachts gebadet, lehrerlos, kleiderlos. Aber hatten sie sonst irgendetwas getan, damals? War das Tun nicht das des Meeres gewesen?

*

Als er später, das Schweigen des Meeres wieder geschmolzen, im Hotelrestaurant von der Toilette zurückkam, schob sie ihm einen Zettel zu: einen Smiley mit Sprechblase, in der „n r d (nächste runde du)“ stand. Er winkte dem Kellner, während er darüber nachdachte, wie er sie mit Lippenstift fand. In der Schule hatte sie nie welchen getragen, und ob sie bei ihrer letzten Begegnung auf dem Hof ihrer Mutter welchen aufgelegt gehabt hatte, war ihm entgangen.

„Verheißungen des Sommers“ würde er die Kampagne nennen, wenn seine Firma einen Werbeauftrag für Make-up bekommen sollte. Schillernde Salzkristalle, die aus einem Wassertropfen ploppen, Windrauschen, Möwen, die in Meereswellen tauchen und als Blauwale...

“tschuldigung, was hast du gefragt?“, fuhr Mirko auf.
„Ich fragte, an was du gerade denkst.“
„Ach, bloß an meine Arbeit.“
Viola schüttelte belustigt den Kopf: „Bloß? So, wie du lächelst, hätte ich eher auf etwas Romantisches getippt. Weißt du eigentlich, was n r d wirklich bedeutet?“
Leichte Röte stieg ihm ins Gesicht, während er sie fragend anschaute.

„Du Nerd!“


 

Nordbahnhof

 

Ein paar Schritte, den Zug entlang, und zurück.
Wieder drehen, wieder Blick zum Signal.
Noch ein paar Schritte, es pfeift.
Du verharrst, drehst dich 
ein letztes Mal und 
der Zug ruckt an.


Fuß um Fuß an der Bahnsteigkante
gehend, laufend, rennend.
Das Ende des Bahnsteigs.
Die letzten Wagen rattern an dir vorbei,
du siehst die Rücklichter in der Kurve.
Geblieben, immer geblieben,
um zu fahren,
eines Tages
zu fahren
vom Nordbahnhof.

÷

Er hatte es immer vorgezogen, am Nordbahnhof auszusteigen. 

In Paris, Berlin und Warschau war das kein Problem, auch in Amsterdam und Ahrensfelde nicht, in Hamburg – obwohl eher westlich denn nördlich – konnte man Altona gelten lassen. An manchen Orten diente der Busbahnhof als Alternative.

Wenn im Norden der Bahnhof lag, fand sich am anderen Ende der Stadt der Friedhof, im Osten die Hinterhöfe, im Westen die Betriebshöfe. Auf manches konnte man sich in diesem Land-strich verlassen. Heimat war Sich-Verlassen-Können.

Zumeist war das Nordlicht rot, jedenfalls im Bahnhofsviertel. Hier schien es weiß, als er vor die Halle trat.

Sushi-City. Bambus-Bistro. Sheran-Shop.

All diesen hatte ganz offensichtlich die Stabreim-Mafia einen Besuch abgestattet. Immerhin hatten das Dialysezentrum und die Smartphone-Klinik widerstanden, für das Gesundheits-system gab es also noch Hoffnung.

Blieb die Mona-Bar. Oder der Jiyan-Spätkauf.

Er fand sich auf einem Stuhl im Orient-Cut wieder. Ihm hatte sich nie erschlossen, wieso eine neue Frisur ein neues Leben einläuten könnte, doch die Eitelkeit war in den Jahren etwas unter die Räder gekommen, so dass einem Versuch nun nichts mehr im Wege stand. Während der Barber mit dem Schergerät seiner Kopfhaut und mit Worten seinem Trommelfell zu Leibe rückte, gerieten seine Gedanken ins Gleiten und er sah wieder den Mann im weißen Kittel vor sich.

Mit ernstem Gesicht hatte der Arzt ihm mitgeteilt: „Sie haben DHS.“
Dann war der Hauch eines Grinsens über dessen Gesicht geeilt. 
„Dahme-Havel-Spree. Im Diagnose-Schlüssel wird es allerdings als >Heimweh< deklariert.“
Fehlen eigentlich die Wuhle, dachte er, und die Panke. 
Laut aber fragt er: „Und kann man da was machen?“
„Nun ja, allerdings nur auf Privatrezept: Fahren Sie!“

Deshalb also hatte er eben noch auf dem Bahnsteig gestanden. Der war verlängert worden. Wie auch die Wartezeit auf den verspäteten Zug. Um dreißig Minuten. Mit Seitenwechsel. Auf der anderen Seite stand „Achtung Zugdurchfahrt“. Er mußte es in die Verlängerung schaffen. Bei Elfmetern sah er keine Chance.

Neben dem Barber hatte lange still ein Junge gehockt und diesem bei der Arbeit zugesehen, nun mischte er sich in die Rede des Friseurs. „Meer ist Freiheit und Wald ist Geborkenheit!“, sprang vom Stuhl, gab seinem Vater High Five und verschwand im hinteren Raum. „Borke ab!“ sagte lächelnd der Barbier und bedeutete seinem Gast, daß er nun aufstehen könne.

Vor dem Geschäft summte das Telefon, eine Nachricht der Bahn: Verspätung erhöht, weitere 30 Minuten. Er schlenderte über den Bahnhofsvorplatz, setzte sich auf eine Bank und schaute den Vorübergehenden nach.

Die ersten waren mehrere Schüler, eine summende Redewolke hinter sich herziehend, aus der sich die Worte „Wofür brauchen wir das?“ schälten und vor seine Füße strauchelten.
Eine Joggerin querte den Platz, den Aufdruck ihres T-Shirts zu entziffern, bedurfte einiger Mühe: > muzik juncki Sommerjunior Dreamgirl 2000 <. ​  ​  ​   ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​ 
Nach einigen Augenblicken passierte ihn eine Kehrmaschine der Stadtreinigung. Unter dem Schriftzug #eingeBUCHtet war auf der Seitenwand des Fahrzeugs ein Bücherregal abgebildet, aus dem die Bücher scheinbar wieder entschwebten.  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​ 
„Mirko, warte doch!“ Ein Paar hastete vorbei, er etliche Schritte vor ihr, sie mit ihrem Koffer am Pflaster verzweifelnd.

Tauben am Bordstein.
Sonne im Gesicht.

Es waren die Sonnentage unter den Sonntagen, wenn durch sein geöffnetes Fenster das Pfeifen einer Dampflok stob. Da mußte der Wind schon günstig stehen – und ein Sonderzug unter-wegs sein.  ​  ​      ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​ ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​ 
Für ihn war es wie Meeresrauschen bei Sonnenuntergang, der Jingle der Sehnsucht, Fanfare des Fahrens. Ein Tau, ein Seil, geknüpft an Tage vor sechzig Jahren. 

Er stand auf, ging zu den Gleisen. Auf der Anzeigetafel eine Laufschrift: Verspätung erhöht, Abfahrt unbestimmt.

Sein treibendes Auge blieb am Klinkerbau auf der gegenüberliegenden Seite hängen. Mit der Zeit waren unter den Buchstaben des Bahnhofnamens am Stellwerk ältere Lettern hervor-getreten. Erstaunlicherweise genau die gleichen, nur in anderer Schriftart. ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​​ ​Am Ende des Bahnhofs begannen die Gleise der alten Industriebahn, dorthin lenkte er seine Schritte. Entlang der Schienen, zwischen Brombeer- und Erlengesträuch, führte ein Pfad stadtauswärts. Nach einigen hundert Metern traf er auf den alten Prellbock, der nur noch Rehen galt, dahinter wartete eine Weiche mit festgerostetem Schwunggewicht. Als er unter dem Bock hindurch tauchte, bemerkte er erstaunt die Leichtigkeit, mit der er sich bewegte. Es war nicht das fehlende Kopfhaar, es war der Koffer. Er hatte ihn im Barber-Shop vergessen.

Kopfschüttelnd wandte er sich um, ging zögerlich ein paar Schritte, blieb stehen, sah zurück. Schienen waren für ihn schon immer ein Versprechen gewesen, das Versprechen einer Ader, nicht zu versiegen.

Er entdeckte in der Ferne den Schornstein des Heizkraftwerks, der in das beinah unwirklich blaue Blau des Himmels ragte mit seiner Schärpe aus rot-weißen Karos um den Hals. Dort hinten lief die Stadt aus, in Lachen aus Gebrauchtwarenhandel, Garagen und Lagerhallen. Unorte.docx.
War seine Seele im Dispo, daß der Rand ihn lockte?  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​ 
Er machte sich auf den Weg zurück zum Bahnhof.  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​  ​ 

Der Orient Cut hatte schon geschlossen, durch das Schaufenster konnte er seinen Koffer neben dem Garderobenständer als Schatten ausmachen. Würde man ihn ihm nachschicken oder sollte er sich ein Zimmer nehmen?

Auf Gleis 1 stand inzwischen ein Zug. Eine Durchsage bat um Verständnis, daß noch auf Anschlußreisende gewartet werden müsse.

÷

Ist noch Zeit.
Den Fuß zurück vom Trittbrett
auf den Perron.
Bahnsteig, denkst du
Bahnhofsuhr.
Der Blick geht hoch.
Ist noch Zeit,
denkst du,
noch Zeit.

 


 

[1] https://www.deutschlandfunk.de/ankara-die-bibliothek-der-muellmaenner-100.html